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Kann ich trotz Stress mein Nervensystem regulieren? Wie oft höre ich, dass jemand zuerst weniger Stress haben müsse, bevor er / sie Zeit hat, zu spüren, was in seinem Körper gerade los ist. Ehrlich gesagt, glaubte ich das lange selber.
In der Zwischenzeit rufe ich jedem, der es hören will zu: Egal, was Du gerade um die Ohren hast (oder gerade deswegen), nimm Dir Zeit und beginn achtsam hinzuspüren. Durch Spüren und Erlauben, Atemübungen oder bewusste Naturwahrnehmungen erhält Dein Nervensystem über die Zeit Heilimpulse und neue Fähigkeiten, Sicherheit im Leben ohne selbst und ständig zu empfinden.
Denn: Nichts in Deinem Leben läuft unabhängig von Deinem Betriebssystem, dem autonomen Nervensystem, ab – auch nicht Dein Stress. Der ist sozusagen in Dein Nervensystem hineinkodiert, falls Du regelmässig im Multitasking Hamsterrad zu Hause bist.
Nur wenn Du den Zustand von weniger Stress auch in Deinem Nervensystem verankern kannst, nur dann wirst Du überhaupt jemals den Punkt erreichen, an dem Du weniger Stress im Leben dauerhaft haben wirst.
Unsere Gesellschaft ist verkopft
In unsere Welt regiert der rationale Verstand. Kein Wunder lernen wir schon, als Kinder nicht ganz ernst zu nehmen, was wir spüren und empfinden. Dabei spalten wir unsere körperlichen Empfindungen immer mehr von dem, was wir im Kopf denken, ab. Diese Abspaltung (Dissoziation) von körperlichen Empfindungen wird über die Zeit, je öfters wir es praktizieren, im Nervensystem automatisiert.
Dieses Abspalten wird immer normaler und unbewusster, und führt schlussendlich zu einem Zustand des Disembodiment – des nicht in seinem Körper zu Hause Seins.
Frag Dich rasch selbst, wie viel von Deinem Körper Du im Alltag spürst. Ich spürte mich jahrzehntelang nur im Kopf. Alles unterhalb vom Hals abwärts spürte ich im Alltag fast nicht und nahm diesen Teil des Körpers als nicht zu mir gehörig wahr. Mein Körper war im besten Fall mühsam, und ich normalerweise froh, wenn ich so wenig wie möglich von ihm spürte. Jahrzehnte lang waren mir Komplimente zu meinem Aussehen unangenehm, Gefühle machten mich nervös und nur mein analytischer, logischer und schneller Verstand war mir geheuer.
Und nun frage ich Dich: „Erkennst Du Dich da ein wenig wieder?“
Im Körper ankommen, heisst Dich spüren lernen
Dieses «Nicht im Körper zu Hause sein» hat tiefgreifende Folgen auf unser Inneres und unser So-Sein. Die Folgen dieses Sich-selber-gar-nicht mehr Spürens sind in unserem Alltag allgegenwärtig.
Wie oft überraschen uns stressbedingte Krankheiten gefühlt ohne Vorwarnung. Ein Burnout bremst uns oft knallhart aus, obwohl wir im Kopf immer noch dachten, es ginge schon noch. Wer schon mal von seinem Körper ausgebremst wurde, weiss sicher, wovon ich spreche.
Aber sind wir wirklich von unserem Körper ausgebremst worden? Was, wenn unser Körper unser Freund wäre, der beste, den wir haben? Wir aber versäumen ihn überhaupt wahrzunehmen oder mit ihm zusammenzuarbeiten? Ohne bewusstes Verkörpern | Embodiment gibt es kein bewusstes Verkörpern eines gewünschten inneren oder äusseren Zustands. In diesem abgespaltetenen Zustand ist es uns gar nicht mehr möglich, wirklich präsent im Hier und Jetzt zu sein.
Nur wenn ich mich wirklich auch im Jetzt im eigenen Körper spüre, kann ich meinen Stress auch richtig wahrnehmen und auch mein Bedürfnis nach Pausen und Energieaufladen wahrnehmen lernen. Zu wissen, dass Grenzen wichtig sind, ist nicht dasselbe als wirklich die eigenen Grenzen zu spüren und dementsprechend zu handeln – ohne schlechtes Gewissen.
Bewusst einen neuen Seinszustand verkörpern lernen
Ohne dass wir auch unsere Empfindungen im Körper wahrnehmen, verlieren wir nicht nur ein Gefühl für uns selber, weil wir uns nicht richtig spüren. Die Folgen sind viel weitreichender als uns normalerweise bewusst ist. Ohne den Zugang zu unseren Gefühlen verlieren wir den Zugang zu unserer Intuition, unserer inneren Stimme. Aber nicht nur das.
Wir verkörpern bewusst oder unbewusst immer wieder den gleichen, oft unguten Seinszustand und erschaffen durch unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen sozusagen in Dauerschleife die immer gleichen Situationen. Es nützt eben nicht, den Arbeitgeber, den Partner oder den Job zu wechseln, solange Du selber immer noch gleich denkst, fühlst und handelst.
Dein autonomes Nervensystem hat sich von klein auf entwickelt und sorgt sich um Dein Überleben. Jedes negative Lebensereignis, in dem Du Dich hilflos oder überfordert fühltest, speichert dieses System ab und bestimmt, ob Du Dich in einer neuen Situation unbewusst bedroht fühlst. Diese gespeicherten Überforderungen führen oft zu einem Bruch mit dem eigenen authentischen Selbst, da es sicherer ist, nichts zu spüren (Freeze) oder zu kämpfen oder zu vermeiden (Flucht).
Embodiment von Ruhe und Gelassenheit ist ein Prozess
Ich jedenfalls blieb jahrzehntelang das selbst und ständig arbeitende Wesen, das ich auch schon vor meiner ersten Selbstständigkeit gewesen war. Es fühlte sich viel sicherer an, alles selbst zu machen und vor allem viel, so gut als möglich zu machen. Meine Umgebung war mir für mein Empfinden viel zu wenig verlässlich und ein Minenfeld voller unvorhersehbare Konflikte. Ich verliess mich am liebsten auf mich selber. Kontrolle und Perfektionismus waren kleine sichere Anker in einer unberechenbaren Welt.
Die notwendige Veränderung meines langsam lebensbedrohenden Stressmusters begann im Inneren – in dem ich mich ohne etwas zu tun oder zu leisten trotzdem sicher in mir und im Leben lernte zu fühlen. In kleinen Schritten begann ich Gefühle zuzulassen. Ich ging bewusst in meinen Körper und erlaubte es mir einfach zu Atmen, den Boden zu spüren und Sicherheitssignale in mir und im Umfeld wahrzunehmen, obwohl ich Angst hatte oder eine Lösung nicht schon kommen sah.
Mit diesen regelmässigen, achtsamen Minuten im Alltag begann ein innere Selbstheilungsweg. Pötzlich erlebte ich innere Ruhe und Zuversicht ohne, dass es im Aussen eine Spiegelung dafür gab. Ich begann einfach sein statt ständig machen zu praktizieren. Etwas was ich mir jahrelang vornahm, ging nun plötzlich von selbst. In einem meiner früheren Blogposts erkläre ich Dir, warum in einem dysregulierten Zustand, Vorsätze immer wieder scheitern.
WICHTIG zu wissen: Dein autonomes Nervensystem lässt Dich über Gefühle im Körper wissen, ob es entspannt oder im Flight/Fight oder Freeze Modus operiert. Erst durch das bewusste Hinspüren, was Dein Körper für Geschichten erzählt, kannst Du bewusst lernen auch Gelassenheit und Ruhe wirklich zu verkörpern und nicht nur zu wollen.
Wir verkörpern bewusst oder unbewusst immer unser derzeitiges Stressniveau und erzeugen unser IST-Leben sozusagen in Dauerschleife durch das, was wir fühlen, denken und tun. Daher ist es wirklich enorm wichtig, dass wir bewusst etwas NEUES verkörpern lernen, das uns unterstützt, tiefgreifend anders zu denken, zu fühlen und schlussendlich zu handeln.
Embodied Self oder einen neuen Seinszustand erlernen
Das, was Du Dir wünscht, ist zwar überhaupt nicht unrealistisch, aber Du musst Dein unbewusstes, automatische «SoSein-Programm» wahrnehmen und mit neuen, besseren Mustern füttern lernen.
Durch Spüren, Erlauben, Integrieren und Nähren von neuen Gefühlen während der Embodiment Arbeit mit dem Nervensystem, verankern wir eine Veränderung auf allen Ebenen unseres Seins – auch im Körpers und dessen neuromuskulären Mustern.
Alle Dinge, die Du bewusst oder unbewusst (im Autopilot) wiederholst, sind eine Praxis. Letztlich praktizierst Du immer etwas im Leben. Bei den meisten Menschen geschieht dies implizit (unbewusst) durch das autonome Nervensystem.
Dein Muster, viel & gleichzeitig zu tun und auf das Leben immer mit Aufgaben, Verantwortung und Multitasking zu reagieren, hat aus Sicht des Nervensystems, Dein Überleben gesichert. Heute ist dieses Muster vielleicht nicht mehr angemessen oder hilfreich – nur weiss das Dein autonomes Nervensystem noch nicht.
Der Weg aus den eigenen unbewussten Mustern – die eigentlich nur unser Überleben sichern wollen – benötigt bewusste Momente, in denen Du innehältst und nach innen spürst, was Du gerade verkörperst.
Selbstheilung ist kein Voodoo, aber Arbeit
Es braucht Mut, nach innen zu spüren trotz all den Dingen, die Du unbedingt gerade erledigen oder lösen solltest. Aber nur dieses aufmerksame Nach-Innen-Spüren, hilft Dir, Ruhe und Gelassenheit verkörpern zu lernen, auch wenn gerade viel im Aussen, Dein Feuerwehr spielen triggern könnte.
Ich musste 50 werden, um endlich mein «Do-It-All-and-Perfect» zu verändern. Ich lernte trotz Stress zuerst mein Nervensystem zu regulieren und nicht nur einfach zu handeln. Ich weiss noch genau, wie sehr mein Kopf rebellierte, als ich aufgefordert wurde hinzuspüren, wie es mir geht.
Ich übte, einfach zu atmen, wenn ich Probleme spürte. Ich lernte, Hilfe zu suchen und auch anzunehmen. Mein autonomes Nervensystem musste lernen, dass Pausen im Leben sicher sind. Es lernte, dass ich sehr gute Lösungen auch ohne meine sofortiges, aktives Feuerlöschen ein paar Tage später finden konnte. Mein Nervensystem lernte, Grenzen über meinen Körper als Hilfsmittel zu spüren und zu respektieren. Es lernte, Zeit nehmen als sicher zu empfinden und auch Ergebnisse auch mal loslassen zu können.
Also, falls Du gerade denkst, dass Du zuerst weniger Stress haben solltest, bevor Du Dich aufs Spüren und Erlauben während einer Embodiment Session einlässt – IST DAS WIRKLICH WAHR? – ich meine das aus tiefstem Herzen.
Hier noch ein Podcast Tipp, um mehr über die Verbindung Körper & Geist zu hören. Britta Kimpel, meine NeuroEmbodied SoulCentering Ausbildungsleiterin, erzählt hier mehr zu den Grundlagen der Embodiment Arbeit.
Ich selbst zeige Dir immer wieder auf meinen Social Media Kanälen einfache Übungen dem eigenen Nervensystem Sicherheit zu signalisieren. Dadurch kannst du Dich von Konditionierungen, Mustern und schmerrzhafter Folgen seelischer Verletzungen Schritt für Schritt befreien lernen. Das Leben ist Dein Freund und es macht Spass dieses Vertrauen in Dir selbst zu nähren und zu stärken.
Liebe Grüsse
Deine Gertrud