Was ist Trauma in der Neurobiologie? Eine traumasensible Betrachtung.

Neurobiologie von Trauma

geschätzte Lesezeit: 8 Minuten

Trauma – ein Wort, das in uns Bilder grosser Dramen wachruft: Krieg, Gewalt, lebensbedrohliche Katastrophen. Viele Menschen glauben, nur wer diese extremen Ereignisse erlebt hat, könne tatsächlich traumatisiert sein. Doch die Realität ist oft viel leiser, subtiler und vielschichtiger. Trauma muss nicht immer die grossen, spektakulären Erlebnisse umfassen. Viel häufiger trägt es sich in den kleinen, unscheinbaren Momenten unseres Lebens zu.

Vielleicht hast du als Kind eine Phase erlebt, in der deine Eltern lange im Krankenhaus waren. Oder vielleicht haben sie mit Depressionen zu kämpfen gehabt und waren dadurch nicht emotional verfügbar. Scheidungskonflikte, wiederholtes Mobbing oder die Überforderung unserer Bezugspersonen – all dies sind Ereignisse, die unsere Kapazität zur Verarbeitung übersteigen können, gerade weil wir als Kinder klein und abhängig sind.

In diesen stillen Momenten, in denen wir keine sichere Bezugsperson hatten, die uns half, unsere Emotionen zu verstehen und zu regulieren, können Erlebnisse tief in uns Spuren hinterlassen, die wir im Nachhinein vielleicht kaum als «traumatisch» erkennen. Doch diese scheinbar alltäglichen Situationen haben das Potenzial, unsere innere Welt nachhaltig zu erschüttern. Es ist an der Zeit, diese kleinen, stillen Traumen mehr ins Bewusstsein zu rücken und zu verstehen, was in unserer Neurobiologie tatsächlich geschieht, wenn uns das Leben emotional überfordert.

In diesem Blogbeitrag möchte ich dir zeigen, wie sich traumatische Erlebnisse – gross oder klein – auf unsere Neurobiologie auswirken und wann eine Erfahrung zum Trauma wird. Vielleicht findest du dich oder jemanden, den du kennst, in diesen Erklärungen wieder – und kannst ein Stück mehr Verständnis für dich selbst oder deine Lieben aufbringen.

Wann wird eine Erfahrung zum Trauma?

Eine Erfahrung wird dann zum Trauma, wenn sie unsere Fähigkeit zur Verarbeitung und Bewältigung übersteigt.

Verena König

Während unser Nervensystem darauf ausgelegt ist, Stress zu verarbeiten und unser Überleben zu sichern, gibt es Situationen, die unsere Kapazität überlasten und unser System an seine Grenzen bringen. Traumatische Erlebnisse sind oft nicht allein durch den Schweregrad des Ereignisses gekennzeichnet, sondern durch das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht, das sie begleiten.

Um zu verstehen, wann und warum eine Erfahrung zum Trauma wird, betrachte ich im Folgenden einige zentrale Mechanismen.

Die traumatische Zange: Was macht eine Erfahrung traumatisch?

Damit eine Erfahrung das Potenzial entfaltet, zu einem Trauma zu werden, muss der Mensch in eine sogenannte «traumatische Zange» geraten. Dieses Bild beschreibt eine Situation, in der eine Person sowohl physisch als auch psychisch «in die Ecke gedrängt» wird. Was diese Erlebnisse von anderen stressreichen Situationen unterscheidet, sind die starken Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein.

In der traumatischen Zange reicht die aufgebrachte Energie nicht aus, um die Gefahr abzuwenden oder Sicherheit wiederherzustellen. Zudem fehlt es an rettender Hilfe von aussen. Die schützenden Grenzen auf körperlicher und/oder seelischer Ebene werden gesprengt, und es bleibt kein Raum, das Geschehene zu verarbeiten.

Diese Art der Überforderung übersteigt die Kapazität unseres Nervensystems und beeinflusst, wie die Erfahrung auf neurobiologischer Ebene verarbeitet wird.

Während ein intensives Erlebnis, das wir erfolgreich bewältigen können, in unserem Gehirn geordnet und abgeschlossen abgespeichert wird, bleibt ein traumatisches Ereignis fragmentiert und unvollständig verarbeitet. Ob eine Erfahrung vollständig eingeordnet, verdaut und als abgeschlossen abgespeichert werden kann oder nicht, bestimmt massgeblich, wie unser Gehirn sie verarbeitet – und ob sie uns langfristig belastet.

Dissoziation: Eine Überlebensreaktion des Gehirns

In einer traumatischen Situation schaltet unser Gehirn auf ein «Notprogramm», das dazu dient, unser Überleben zu sichern. Das Stammhirn, das für instinkthafte Überlebensreaktionen zuständig ist, übernimmt die Führung.

Die Amygdala, unser emotionales Alarmsystem, löst eine Stresskaskade aus, wodurch der gesamte Organismus in einen Alarmzustand versetzt wird.

Neurobiologie von Trauma
Innerhalb unseres Gehirn spielen Hippocampus und Amygdala eine grosse Funktion in unserem Überlebensmodus

Durch die Ausschüttung von Stresshormonen und Botenstoffen verändert sich die Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Die eingehenden Reize strömen ungefiltert auf uns ein, und unser «Arbeitsspeicher» wird überlastet.

Der Informationsfluss zum Hippocampus – der normalerweise dafür zuständig ist, Erinnerungen geordnet und zeitlich verknüpft abzuspeichern – wird blockiert.

Das Erlebnis wird daher fragmentiert, in einzelne Schnipsel zerlegt, die nicht als zusammenhängende Erinnerung verarbeitet werden können. Diese Schnipsel sind nicht in Raum und Zeit verankert und verbleiben als «heisse» Erinnerungsfragmente im System.

Dissoziation, die Aufspaltung von Wahrnehmung und Erinnerung, ist eine wichtige Überlebensstrategie des Gehirns. Wenn wir äusserlich nicht fliehen können, «fliehen» wir nach innen.

Das heisst, unsere Wahrnehmung verändert sich, und wir spalten das Erlebte in einzelne, weniger bedrohliche Teile auf. Dadurch wird die Wucht des Ereignisses gemildert, und wir können die Situation emotional und körperlich überleben.

Flashbacks und Trigger: Wenn alte Erinnerungen präsent werden

Flashbacks und Trigger sind typische Folgen von traumatischen Erfahrungen, die nicht verarbeitet wurden.

Flashbacks beschreiben das plötzliche, intensive Wiedererleben von traumatischen Erinnerungsfragmenten – oft ausgelöst durch einen Trigger, also einen bestimmten Reiz, der das ursprüngliche Erlebnis wieder aktiviert. Dies kann ein Geruch, ein Geräusch oder auch ein Gefühl sein. Die betroffene Person erlebt die frühere traumatische Situation erneut, als wäre sie im Hier und Jetzt.

Trigger sind wie der Abzug einer Waffe, der einmal betätigt unaufhaltbar Erinnerungsfragmente freisetzt, die mit voller Wucht ins Bewusstsein treten.

Diese Flashbacks können visuell, emotional, körperlich oder sensorisch sein und die betroffene Person komplett überwältigen. Sie sind in ihrer Intensität und Unvorhersehbarkeit extrem belastend und wirken sich stark auf das Leben der Betroffenen aus.

Die Dissoziation und Fragmentierung der traumatischen Erinnerungen macht sie besonders anfällig dafür, durch äussere Reize «getriggert» zu werden.

Dies führt dazu, dass Betroffene in bestimmten Situationen oder bei bestimmten Reizen plötzlich zurück in das Trauma katapultiert werden – eine Art «Zeitschleife», die sich nur schwer kontrollieren lässt.

Welche Arten von Trauma gibt es?

Trauma ist nicht gleich Trauma – die Auswirkungen traumatischer Erlebnisse hängen stark von der Art und der Dauer der Belastung ab.

Während manche Menschen einzelne, isolierte traumatische Ereignisse erleben, gibt es andere, die wiederholt traumatischen Situationen ausgesetzt sind.

Auch frühe und komplexe Traumatisierungen hinterlassen ihre Spuren und beeinflussen unsere Entwicklung.

Diese unterschiedlichen Formen von Trauma führen zu verschiedenen Symptomen und erfordern auch unterschiedliche therapeutische Ansätze.

Im Folgenden beschreibe ich verschiedenen Arten von Trauma, mit dem Anliegen, das Verständnis für die Vielfalt und Komplexität von Traumatisierungen zu steigern.

Entwicklungstrauma und Bindungstrauma: Auswirkungen auf die kindliche Entwicklung

Der Begriff „Entwicklungstrauma“ bezieht sich auf traumatische Erlebnisse, die die gesunde Entwicklung eines Kindes beeinträchtigen oder stören.

Solche Traumata entstehen durch frühkindliche Belastungen wie Vernachlässigung, Verlust von Bezugspersonen oder Misshandlungen.

Der stressige Einfluss auf die kindliche Entwicklung zeigt sich in langfristigen Veränderungen im Verhalten, der Emotionsregulation und der Fähigkeit, Beziehungen einzugehen. Häufig leiden diese Kinder unter Schwierigkeiten, sich selbst zu regulieren, zeigen auffällige Stimmungsschwankungen und empfinden oft diffuse körperliche Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen.

Bindungstraumatisierungen entstehen, wenn in der Kindheit traumatische Ereignisse die Bindungsqualität und -fähigkeit zwischen Kind und Bezugsperson beeinträchtigen. Dies kann etwa durch den Verlust eines Elternteils oder durch Misshandlungen geschehen.

Bindungstraumata hinterlassen tiefe Spuren in der Art und Weise, wie wir als Erwachsene Beziehungen erleben und eingehen. Sie sind nicht das selbe wie Entwicklungstrauma, können jedoch oft gemeinsam auftreten.

Diese frühen Prägungen durch fehlende sichere Bindungen zu unseren Bezugspersonen führen dazu, dass Menschen mit Bindungstraumata Schwierigkeiten haben, emotionale Nähe zuzulassen und Vertrauen zu anderen aufzubauen.

Beziehungen sind dann oft häufig von der Angst vor Ablehnung oder Verlassenwerden geprägt, was als unsicheres Bindungsverhalten bezeichnet wird. Dies kann sich zum Beispiel in ständiger Vorsicht, einem starken Bedürfnis nach Kontrolle oder einem vermeidenden Umgang mit Nähe, um potenziellen emotionalen Schmerz zu vermeiden, äussern.

Monotrauma: Einzelne traumatische Erlebnisse

Monotrauma bezeichnet ein einzelnes, in sich abgeschlossenes Ereignis, das eine traumatische Wirkung entfaltet.

Oft wird ein Monotrauma auch als Schocktrauma beschrieben, da es durch seine Plötzlichkeit und Heftigkeit die betroffene Person in einen Schockzustand versetzen kann.

Solche Ereignisse umfassen zum Beispiel Unfälle, medizinische Notfälle, Opfer von Gewalt oder den plötzlichen Verlust eines Angehörigen. Auch Naturkatastrophen, Verkehrsunfälle oder Terroranschläge können zu einem Monotrauma führen.

Es handelt sich dabei um Erlebnisse, die unvermittelt und mit grosser Intensität auftreten, wodurch sie die Betroffenen völlig aus der Bahn werfen können.

Sequenzielles Trauma: Wiederholte Traumatisierungen

Sequenzielle Traumatisierungen entstehen durch wiederkehrende oder anhaltende Belastungen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken. Im Gegensatz zum Monotrauma sind die betroffenen Personen bei sequenziellen Traumata nicht nur einmal, sondern immer wieder traumatischen Situationen ausgesetzt.

Dies können Kriegs- oder Fluchterlebnisse, Folter, wiederholte Misshandlungen oder auch emotionale und körperliche Gewalt in der Kindheit sein.

Auch emotionale Schocksituationen wie Mobbing, soziale Ausgrenzung oder wiederkehrende Demütigungen fallen in diese Kategorie.

Durch die Häufigkeit und Dauer dieser Erlebnisse können sich tiefe, langfristige Prägungen entwickeln, die das Nervensystem der betroffenen Personen nachhaltig prägen.

Komplextrauma: Frühe und anhaltende Traumatisierungen

Komplextrauma beschreibt Traumatisierungen, die vor allem in der frühen Kindheit stattfinden und oft durch Menschen verursacht werden, die eigentlich eine Bindungsperson darstellen sollten.

Diese Art von Trauma entsteht durch wiederholte, andauernde Belastungen wie emotionale oder körperliche Vernachlässigung, Misshandlungen oder Bindungsverluste.

Komplextraumata haben oft eine besonders tiefgreifende Wirkung, da sie in einer Entwicklungsphase geschehen, in der das Nervensystem besonders verletzlich ist.

Viele Menschen, die als Kinder solchen Belastungen ausgesetzt waren, sind sich gar nicht bewusst, dass ihre Erfahrungen traumatisch waren, da sie diese als «normal» empfunden haben.

Diese Art der Traumatisierung hinterlässt oft lebenslange Spuren im emotionalen und sozialen Verhalten.

Traumafolgen in der Neurobiologie und der Weg heraus

Traumata, insbesondere solche, die in der frühen Kindheit entstehen, wirken sich tiefgreifend auf die Neurobiologie aus, da sie die Entwicklung der für Bindung, Emotionsregulation und Stressverarbeitung verantwortlichen Gehirnstrukturen beeinträchtigen.

Die Amygdala, das emotionale Alarmsystem, bleibt oft in ständiger Alarmbereitschaft, was zu einer Überreaktion auf wahrgenommene Bedrohungen führen kann. Bildlich gesprochen, löst die Neurobiologie der Betroffenen häufig unnötig Alarm in der „Feuerwehrzentrale“ aus, obwohl es weder ein Feuer noch gefährlichen Rauch gibt.

Gleichzeitig kann der Hippocampus, der für die Verknüpfung von Erinnerungen mit Raum und Zeit zuständig ist, in seiner Funktion beeinträchtigt werden, wodurch das Gefühl von Sicherheit und Vertrauen erschwert wird. Zudem führt die im Moment des Erlebnisses einsetzende Dissoziation dazu, dass Betroffene heute fragmentierte, belastende Erinnerungsschnipsel durchleben, ohne diese zu einem vollständigen, stimmigen Bild zusammensetzen zu können.

Darüber hinaus kann der präfrontale Kortex, der für rationale Entscheidungen und Selbstregulation wichtig ist, in seiner Entwicklung beeinträchtigt werden. Dies macht es schwieriger, emotionale Impulse zu kontrollieren und stressbedingte Reaktionen zu regulieren.

Diese neurobiologischen Veränderungen haben direkte Auswirkungen auf das tägliche Leben – die Betroffenen erleben eine ständige innere Unruhe, Schwierigkeiten, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen, und häufig Probleme, alltägliche Belastungen zu bewältigen.

Abschliessend lässt sich sagen, dass Traumata – besonders jene, die in der frühen Kindheit entstehen – tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Neurobiologie und damit auf unser gesamtes Leben haben können. Das Verständnis dieser Mechanismen ist der erste Schritt, um sich selbst besser zu verstehen und Heilung zu ermöglichen.

Mein letzter Blogartikel erklärte, was die NI Neurosystemische Integration® ist und wie sie uns hilft, mit traumatischen Erfahrungen umzugehen. NI bietet wissenschaftlich fundiert einen sanften, ressourcenorientierten Ansatz, der das Ziel verfolgt, traumatische Erlebnisse auf neurobiologischer Ebene zu integrieren und dabei das Nervensystem zu unterstützen.

Es geht darum, Fragmentiertes zu einem stimmigen Ganzen zusammenzusetzen und wieder Vertrauen und Sicherheit im eigenen Körper zu finden. Indem wir in der Begleitung die Erkenntnisse der Neurobiologie mit traumasensiblen Methoden verbinden, können Betroffene neue Wege zu mehr Selbstregulation, innerer Ruhe und Lebendigkeit im Hier und Jetzt finden.

Wir lösen sanft die Verknüpfungen und Verflechtungen alter Erfahrungen und ersetzen sie durch neue, als sicher empfundene Erlebnisse, die uns helfen, innerhalb unseres Stresstoleranzfensters mehr Kapazität für die Herausforderungen des Alltags zu entwickeln.

Unter anderem üben wir in Zeiten der Überforderung und Hilflosigkeit uns selbst der Mensch zu werden, den wir selbst gebraucht hätten, als wir klein waren.

Liebe Grüsse,

Gertrud

Balance im Leben und im Nervensystem | ohne emotionale Überforderung

Embodiment | Nervensystem | Verbindung zu Dir

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