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Dysregulation im Nervensystem klingt als würdest du etwas falsch machen. Aber ist es wirklich so? Gibt es gute Gründe, warum unser Nervensystem in die Dysregulation rutscht? Und falls es so ist, was kannst du selbst tun, um aus der Dysbalance in die Regulation zurückzufinden. In diesem Blogpost beleuchte ich die einzelnen Aspekte rund um Dysregulation und Möglichkeiten für Regulation des Nervensystems im Alltag.
Welche Zustände kennt unser Nervensystem im Alltag
Unser Nervensystem hat als zentrale Aufgabe, unser Überleben zu sichern. Es reguliert unseren Herzschlag, unsere Hormonausschüttungen, Muskeltonus und Schlaf- bzw. Verdauungszyklen. Unser Nervensystem ist ein komplexes Zusammenspiel von Nervenbahnen, Organen, Drüsen und Gehirnarealen, erfunden, um unser Überleben zu sichern.
Es scannt ständig mithilfe unserer Sinne die Umgebung und gleicht es mit gespeicherten Gefahrensignalen ab. Es entscheidet blitzschnell, ob wir in Gefahr sind und reagiert innerhalb von Millisekunden, meistens unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle. Dafür nutzt er verschiedene Bahnen im Nervensystem, die hierarchisch organisiert sind. Mehr dazu kannst du hier nachlesen.
Unser Parasympathikus verfügt im Vergleich zur Tierwelt nicht nur über einen dorsalen Ast für alle regenerativen Prozesse bzw. zum Tot stellen, sondern auch über einen zweiten Ast. Dieser ventral-vagale Ast macht aus uns Menschen soziale Menschen. Ist er aktiviert, empfinden wir soziale Interaktion als sicher und nährend und wir empfinden Verbundenheit und Sicherheit mit anderen.
Ob sich dieser vordere, ventrale Ast im Alltag einschaltet oder auch nicht, hängt mit der empfunden Belastung | Bedrohung im Alltag zusammen. Sind wir gestresst, oder fühlen wir uns bedroht (oder besser empfindet unser Nervensystem eine Situation bedrohlich) aktiviert sich entweder der Sympathikus (Kampf bzw. Fluchtmodus) oder der dorsale Parasympathikus (Starre oder Ohnmachtsgefühle). Das ist äusserst sinnvoll und auch gut für uns, solange sich diese Aktivierung auch wieder abbaut und wir auch angemessen zurück in den regulierten, ventral-vagalen Zustand pendeln.
Sowohl unser Sympathikus als auch unser Parasympathikus kennen Zustände der Sicherheit als auch Zustände unter Stress. Sind wir innerlich in Balance, fühlen wir uns sicher und verbunden, nutzen wir den Sympathikus für Aktivität (Bewegung, das Kind vom Herd wegziehen, Hausarbeit) und den dorsalen Parasympathikus für Regeneration und Verdauung.
Unser Nervensystem bewegt sich innerhalb unseres Stresstoleranzfensters – das heisst, es kippt nicht in die Übererregung oder Untererregung, sondern schwankt zwischen Aktivierung und Regeneration in sanften Wellen.
Was ist ein dysreguliertes Nervensystem?
Erleben wir den Alltag aber als Dauerstress, als Aneinanderreihung von vielen «Muss oder sollte Situationen», voller Sorgen oder als Einzelkämpfer, katapultiert sich unser Nervensystem aus der Balance. Es kippt in die Dysregulation, ein Zustand, in der sich das Nervensystem nicht mehr in den regulierten, sicher empfundenen Zustand zurück pendeln kann.
Unser Nervensystem bleibt in der Aktivierung stecken oder pendelt von Übererregung zu Untererregung scharf hin und her. Dieser Zustand löst chronische Unsicherheit aus, Gedanken kreisen um selbe Themen, andere Menschen oder soziale Kontakte fühlen sich störend, nervend oder gefährlich an.
Ein weiterer Dysregulationsfaktor kann unsere Lebensgeschichte sein. Falls unsere Kindheit oder weite Teile unseres Lebens gekennzeichnet waren, von Situationen, die uns regelmässig überforderten oder hilflos fühlen liessen, bleiben solche Emotionen auch körperlich präsent bzw. im Körper gespeichert. Es sind Emotionen, die wir zurückgehalten haben oder nicht wahrhaben wollten – aus welchen Gründen auch immer. Unser Körpersystem erinnert sich über die Sinne (eine Tonlage, ein Gesichtsausdruck, eine Stimmung) und reagiert auf die empfundene Gefahr mit Aktivierung (Kampf | Flucht) oder Starre.
Auch unser Alltag kann Gewohnheiten beinhalten, die unser Nervensystem in die Dysregulation kapitulieren. Das können so häufige Angewohnheiten sein wie Vergessen zu trinken, stundenlang nicht aufs WC gehen oder permanentes Scrollen auf dem Handy. Mehr dazu kannst du bei Britta Kimpel nachhören oder lesen.
Wie fühlt sich ein dysreguliertes Nervensystem an?
Ein Nervensystem, das sich bedroht fühlt (und durch Kampf, Flucht oder Erstarren reagiert) wird den ventralen Ast des Parasympatikus nicht regelmässig nutzen. In diesem Zustand fühlt sich das Leben gefährlich, wenig sicher und voller Unwägbarkeiten an. Ein Körper im Kampf atmet flacher und schneller, das Blut fliesst schneller, aber auch mehr in die Extremitäten als in das Gehirn (um die Flucht Energie mässig zu ermöglichen), Adrenalin und Cortisol werden als Informationsgeber in die Blutbahn geschwemmt usw…
Unser Gehirn übersetzt die körperliche Reaktion und Empfindungen in Gedanken. Es sucht passende Gedanken zum Zustand im Körper, denn es ist darauf getrimmt uns zu unterstützen, Sinn zu geben, was intern abläuft. Diese Gedanken speisen sich aus unserer Geschichte. Sie sind eingebettet in der persönlichen Geschichte und daher individuell.
Herauszufinden, welche Gedanken wir denken, abhängig vom Zustand des eigenen Nervensystems ist ein wichtiger Bewusstwerdung-Prozess, auf der eigenen Heilreise zu einem Nervensystem, das nicht mehr im Überlebenskampf stecken bleibt.
Mehr zu Anzeichen eines dysregulierten Nervensystems findest du hier in meinem früheren Blogartikel.
Warum brauchen wir ein Nervensystem, das seine Zustände verändern kann?
Es ergibt durchaus Sinn, dass unser Nervensystem verschiedene Zustände und neuronale Muster kennt. Wir brauchen unser sympathische Nervensystem für Handlungsbereitschaft, Wachheit oder Leistungsfähigkeit. Wir könnten keine Treppe schnell hinauflaufen, wenn wir nicht in den Sympathikus hin einschalten könnten.
Unser dorsale Parasympathikus ist im regulierten Zustand jenes System, das wir zum Regenerieren, Verdauen oder Zellreparatur brauchen.
Unser ventrales System schaltet sich dazu, wenn wir Sicherheit und Kontakt mit anderen Menschen bzw. Lebewesen empfinden. Dieser vordere Strang des parasympathischen Nervensystems reguliert uns, beruhigt uns und hilft bei der Erholung von Anstrengung.
Alle drei Stränge unseres Nervensystems sind zentral, um zu überleben, aber auch um Glück und Erfüllung zu finden – auch wenn unser Nervensystem mehr Interesse fürs Überleben hat.
Jeder Ast unseres Nervensystems funktioniert auch unter Stress, nur anders und erschöpfender für den Körper, was unser Kopf nicht immer wahrhaben möchte.
Wie bemerke ich ein dysreguliertes Nervensystem?
Unser Nervensystem pendelt zwischen den verschiedenen Zuständen, auch im regulierten Zustand. Im Unterschied zum gestressten Zustand fühlen wir uns aber regeneriert, fähig Energie für Aktivität in uns zu finden und authentisch im Austausch mit anderen. Die Herausforderungen des Lebens empfinden wir als machbar und wir pendeln innerhalb unseres somatischen Toleranzfenster ohne in die Übererregung (Kampfmodus) oder Untererregung (Erstarren) zu kippen oder dort sogar hängenzubleiben.
parasympathische ventral | sympatisch | parasympathisch dorsal |
---|---|---|
soziale Unterwürfigkeit | Mobilisierung für den Überlebenskampf | Erstarrung – Totstellreflex |
Tendenz zur Selbstverleugnung | Stresshormon Ausschüttung | Bewegungslosigkeit aus Angst |
sich aufopfern | Anstieg von Herzschlag, Atemfrequenz | Drosselung von Herzschlag und Atemfrequenz |
sich ständig erklären | Weniger Blut im Frontallappen, Einschränkung des Gesichtsfeld | Verdauungsprobleme |
Erwartungen der anderen wichtiger als eigene | Drosselung von Speichelfluss, und Verdauungsenergie | träger Darm |
Beschwichtigungstendenz | Mehr Blut in den Extremitäten | wenig Muskeltonus |
Ein in die ständige Überregung gekipptes System fühlt sich im Hamsterrad gefangen. Ich lebte in diesem Zustand seit meiner Kindheit – ich konnte nur schnell laufen, schnell reden, schnell denken, viel gleichzeitig machen, alles alleine machen und wenig mit Ruhepausen anfangen. Pausen fühlten sich unangenehm oder unmöglich an (Gefahrenmodus). Mein Verstand suchte Kontrolle durch viel und gut machen, und Kontrollverlust oder fehlender Perfektionismus stressten mich gewaltig. Heute merke ich, wenn ich in diesem Zustand hängen bleibe, wenn mir alle um mich zu langsam sprechen oder ich jede Zoom Aufzeichnung mit 2-facher Geschwindigkeit noch zu langsam finde.
Aber unser Nervensystem kann auch in der Untererregung stecken bleiben. Menschen, die sich aus depressive Verstimmungen nicht mehr befreien können oder panische, sorgenvolle Gedanken über die Zukunft oder mögliche Untergangsszenarien in Dauerschleife denken. Diese Menschen können sich aber auch einfach wie gar nicht im Körper fühlen, oder von Gott und der Welt verlassen und alleine.
Wichtig zu verstehen ist, dass diese Reaktionen des Nervensystems dazu angelegt sind, uns zu schützen. Sie basieren auf Erlebnissen, die sich so am besten überleben liessen. Nur hat unser Körper nie gelernt, dass diese vergangene Situation nichts mit dem Jetzt zu tun hat.
Wenn ich mich als Kind um eine depressive Mutter kümmern «musste» und es wichtig war, dass ich nicht durch Anmelden eigener Bedürfnisse heftige Wutausbrüche auslöste, war dieses «Über Funktionieren» aus Nervensystem Sicht überlebenswichtig. Im Erwachsenenleben kann dieses Vermeiden der eigenen Bedürfnisse und Impulse aber zu grossen Leid und andauernden Stress ausarten. Das Nervensystem muss erst erleben, dass Spüren der eigenen Grenzen und Bedürfnisse oder das Geniessen von Pausen sicher sind.
Möglichkeiten für Regulation im Alltag
Die gute Nachricht: Nervensysteme können sich auch nach jahrzehntelanger Dysregulation erholen. Die Neuroplastizität unseres Gehirns ermöglicht uns neue Verbindungen und Schaltkreise zu bauen. Aber es braucht Geduld, Wohlwollen uns selbst gegenüber und das Erlernen von Präsenz dem eigenem Erleben gegenüber.
Zuerst gilt es, die eigenen Nervensystemzustände lesen zu lernen. Das Spüren des eigenen Körpers und der eigenen Gefühle ist dabei mit grosser Achtsamkeit in kleinen Dosen zu üben – damit es nicht zu Überschwemmungsmomenten im eigenen Leben kommt, die nur re-traumatisierend sein können.
Wir müssen wieder lernen präsent zu werden, beobachten zu beginnen, was wir wann fühlen, denken oder tun. Wir können unsere Sinne wieder aktiv und bewusst im Moment wahrnehmen und uns somit auch Stück für Stück unsere Verbindung zu Körper und Gefühlen zurückerobern.
Dabei ist es wichtig, Kraftquellen, Hilfsmittel und Energiespender für sich selber zu entdecken. Was hilft mir in Situationen, die ich als aktivierend erlebe, mich wieder zu entspannen? Was brauche ich, wenn ich das Leben wie in Watte gepackt wahrnehme? Was tut gut bei Traurigkeit und bei Wut?
Die Antworten darauf sind so individuell wie das eigene Erleben. Diese Ressourcen können wir aktiv in unseren Alltag einbauen. Sie helfen uns, uns mit dem Hier & Jetzt zu verbinden und stärken unser alltägliches Erleben von Sicherheit.
Meine Tipps für kleine, feine Sicherheitsimpulse im Alltag:
- Mach es Dir zur Gewohnheit, Dich regelmässig im Raum zu orientieren. Schau dafür langsam über deine linke Schulter, nimm Details und Farben des Raumes wahr, in dem Du Dich befindest. Dreh Deinen Kopf dann langsam in die Mitte und von dort weiter bis Du über Deine rechte Schulter blickst. Wiederhole dieses präsente, langsame Schauen nun auch für Dein Blickfeld nach oben und nach unten. Damit synchronisierst Du Dein präsentes Wahrnehmen mit dem, was Dein Nervensystem unter Deiner Bewusstseinsschwelle wahrnimmt. Das entspannt Dein ganzes System sehr effizient.
- Spüre Deine Füsse ganz bewusst während des Tages. Nimm wahr, wie Dich die Erde trägt. Sei neugierig, ob Du auch Energie zwischen Dir und dem Boden austauschen kannst.
- Beobachte Deinen Atmen während des Tages immer wieder kurz. Du musst ihn nicht verändern, nur bewusst und neugierig beobachten.
- Klopfe Deinen Körper sanft ab, Arme, Schultern, Brustbein. Gerade, wenn Du mit Nein sagen Mühe hast, ist dies eine gute Übung um Deine körperlichen Grenzen bewusst wahrzunehmen.
Versuche einige dieser kleinen, präsenten Momente, um Deinen Körper bewusst wahrzunehmen, in Deinen Alltag einzubauen. Beim Kochen, beim Duschen, beim Warten an einer Ampel. Mach es nicht nur, wenn Du gestresst bist, sondern einfach so. Diese Mini-Interventionen tun mehr für die Resilienz Deines Nervensystems als Du vielleicht glaubst.